Bitte mehr Yin!

Helga Baumgartner, Yin-Yoga-Lehrerin und Autorin, hat für uns ihre Gedanken zum Thema Yin Yoga in einem wundervollen Artikel zusammengefasst und fordert mehr „Yin“ für uns alle!

Seit Jahrzehnten wird unser Leben durch mehr Leistungsdruck, mehr Geschwindigkeit, mehr Mobilität, mehr Stress und einer ständigen Erreichbarkeit zunehmend “yang”-lastiger. Auch die Yoga-Asana-Praxis, die die ersten Indienreisenden ab den 70er Jahren in den Westen brachten, war eher dynamisch-kraftvoll. Wenn auch in den letzten 50 Jahren das ruhigere Hatha Yoga regen Anklang fand, so war die breite Masse begeistert von der Ashtanga- und Vinyasa-Revolution, dem schweisstreibenden und tonisierendem Yoga. Diese intensive Asana-Praxis bot den Menschen lange Zeit einen wunderbaren Ausgleich zum ständigen Sitzen am Schreibtisch oder auch im Auto. Bewegung zum Ausgleich war gefordert und auch nötig. Und sie ist es immer noch! Wir sollen und wollen uns bewegen – auch bei den wachsenden psychischen Erkrankungen unserer Zeit fordern viele Therapeuten ihre Klienten auf, sich als Ergänzung zur Therapie zu bewegen und Sport zu treiben.

Mehr und mehr Menschen brauchen aber nicht nur den körperlichen Ausgleich – sie beginnen, psychisch unter dieser Geschwindigkeit zu leiden. Schon im Kindesalter zeigen sich Stresssymptome und so wie die Kinder überfordert sind, so sind es auch die jungen Erwachsenen. Seit drei Jahren unterrichte ich Sport- und Lehramtsstudenten, im Rahmen eines Lehrauftrags an der Universität Regensburg, in Achtsamkeit durch Yoga und Meditation. Das Feedback der Studenten geht ganz klar in eine Richtung: Alle suchen nach Methoden und Werkzeugen, die ihnen bei der Stressbewältigung helfen und eine Möglichkeit geben dem wachsenden Druck, der auf ihnen lastet, standzuhalten.

Helga Baumgartner 

Foto: Axel Hebenstreit

Diese Entwicklung der Gesellschaft erklärt den wachsenden Wunsch nach einer ruhigen Yogapraxis mit mehr “Yin” – immer als Ergänzung zu unserer Yang-Praxis. Yin Yoga ist, was wir mehr als jemals zuvor brauchen! Als körperlichen Ausgleich, aber noch viel mehr als geistigen und als emotionalen Ausgleich zu unserem übermässig schnellen Leben. Die Zeit ist gekommen für mehr Yin, mehr Pausen, mehr Ruhe, mehr Rückzug und mehr Loslassen. Denn im Optimalzustand sind unser Yin und unser Yang ausgewogen, dann erst kann Wohlbefinden in unserem Körper, Stille, Klarheit und Frieden in unserem Geist und Harmonie in unseren Emotionen entstehen.

Dieser Tendenz in der Entwicklung der Gesellschaft steht noch eine zweite Tendenz zur Seite. Viele Yogaübende, die sich der Asana-Praxis widmen, beginnen zuerst einmal mit dem Erlernen der Basis-Haltungen und entwickeln so nach und nach ein Gefühl für den Körper, den Atem und das Erlernen von Entspannung. Wenn die Basics einmal sitzen, entsteht oft Neugierde und es kommt die Suche nach mehr. Die Schüler fühlen sich bereit anstrengender zu üben, strecken die Fühler aus, probieren vieles aus – jetzt beginnt die Zeit der dynamisch-kraftvollen Praxis! Viele finden einen eigenen Stil, der sie ihr ganzes Leben lang begleitet.

Nach einigen Jahren der kraftvollen Praxis jedoch wünschen sich viele Asana-Praktizierende auch vermehrt eine sanfte Yoga-Praxis. Eine Praxis, die nicht ganz so unbewegt ist, wie das reine Sitzen in der Meditation, die den Körper immer noch in Haltungen und Öffnungen bringt, aber mehr Entspannung und ein längeres Verweilen in den Haltungen erlaubt. Eine Praxis für die Zeiten in unserem Leben, in denen unser Alltag sehr yang-lastig ist. Zeiten, in denen wir körperlich, emotional oder geistig erschöpft sind, uns mehr Raum für uns Selbst wünschen und körperliche Enge sowie innere Anspannung lösen wollen. Diese Anspannung entsteht oft aus dem Konflikt sehr viele Rollen gleichzeitig erfüllen zu müssen oder zu wollen – die Rolle als Partner, als Eltern oder Kind, als Freund oder Freundin, als pflichtbewusster Arbeitnehmer, als disziplinierter hingebungsvoller Yogi, als ehrenamtlicher Mitarbeiter, als hilfsbereiter Mitbürger, als achtsamer Erdenbewohner und vieles vieles mehr. Die Zeiten, in denen eine Yoga-Praxis mehr Ausgleich für uns bietet, wenn sie Yin orientiert ist.

Auch bei mir lag der Fokus in der Yoga-Praxis am Anfang im Erlernen der Basics, was in meinem Fall zuerst eine jahrelange Achtsamkeitsmeditation, autogenes Training und dann sechs Jahre lang ein sehr mildes Hatha Yoga bedeutete. Danach kam eine wilde Phase mit dem Kennenlernen von Ashtanga-Vinyasa, und schließlich, vor zehn Jahren, kam Yin Yoga in mein Leben. Diese Praxis war die reine “Erleuchtung” für mich, vereinte sie doch die Ruhe der Meditation mit dem Öffnen des Körpers aus den einzelnen Yoga-Haltungen – perfekt!

Helga Baumgartner Yin Yoga 

Foto: Axel Hebenstreit

Die Praxis des Yin Yoga wurde meine persönliche Liebeserklärung an meinen Körper, ich begann immer mehr in mich hineinzuspüren. Früher gab es für mich keine Wahl: ich “musste” jeden Tag mit 90 Minuten kraftvoller Yogapraxis beginnen. Seit einigen Jahren gestehe ich mir die Freiheit zu, mich erst zu spüren. Ist heute ein Tag, an dem sich mein Körper Yang-Yoga wünscht, oder ist heute eher ein Yin-Tag für mich? Anfangs begeisterte mich beim Yin Yoga auch, wie sehr diese Praxis meine Beweglichkeit verbessert hat, wie viel besser ich durch das Üben auch meditieren konnte, da mein Körper im Sitzen auf einmal weniger Anspannung in sich trug. Nach über einem Jahrzehnt Yin-Yoga-Praxis hat sich meine Sicht darauf grundlegend verändert.

Das Potential von Yin Yoga ist weit grösser als die körperlichen Auswirkungen, die Öffnung und die Entspannung des Körpers. Die wahre heilende Kraft des Yin Yoga liegt in der Entschleunigung, in der Akzeptanz, in der Praxis des liebevollen Mitgefühls, der Achtsamkeitspraxis. Irgendwann erreichen wir in unserer Yoga-Praxis hoffentlich den Punkt, an dem wir bemerken, dass die Zeit des Kämpfens vorbei ist. Ich möchte mir selbst in meiner Yoga-Praxis etwas Gutes tun, mich so annehmen wie ich bin, meinen Körper so annehmen und auch die jetzige Situation so annehmen, wie sie ist. Erst dieses Annehmen erlaubt es uns, die innere Anspannung, die uns bisher vielleicht immer begleitet hat, loszulassen. Sie schmilzt unter dem Annehmen hinweg. Was nun stattfindet, ist Heilung. Auf tiefer körperlicher, emotionaler und psychischer Ebene. Um dies zu ermöglichen, praktiziere und unterrichte ich Yin Yoga nun viel sanfter als noch vor mehreren Jahren. Meine Hoffnung ist, dass durch gutes Einrichten und Unterstützen in den Haltungen jeder seine eigene Grenze und Form findet, in der ein Loslassen auf allen Ebenen möglich ist. Auf der Ebene des Körpers, der Psyche und der Emotionen.

Ein schönes Zitat dazu stammt von einem meiner Lehrer und Mentoren, Biff Mithoefer:

“Von Akzeptanz kommt Gleichmut und von Gleichmut kommt Mitgefühl, liebevolle Freundlichkeit und wohlgesinnte Freude.”

Dabei ist Yin Yoga keineswegs eine neue Praxis! Die alten Schriften belegen, dass es immer ein Yin und ein Yang in der Asana-Praxis gab. Sogar in den frühen 70er Jahren war klar, dass Yoga mit entspannter Muskulatur geübt werden sollte. Vor allem die Muskeln in den Bereichen, die gerade gedehnt wurden, sollten laut André Van Lysebeth oder Lucy Lidell, westlichen Yogaexperten der damaligen Zeit, komplett entspannt sein. Deshalb ist Yin-Yoga auch kein Trend, keine vorübergehende Modeerscheinung, sondern ein Yoga, das es immer schon gab. So wie das Ha und das Tha, Sonne und Mond, Yin und Yang. Und es ist ein Yoga, das uns Zeit zum tiefen Durchatmen gibt.

Deshalb jetzt und für alle: bitte mehr Yin!

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